Historikertag 2008: Neue Politikgeschichte

Von
Dominik Geppert, Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin / Universität Bonn

Besprochene Sektionen

"Neue Politikgeschichte"
"Politisch-kulturelle Ungleichheiten im Spannungsfeld zwischen ‚Orient’ und ‚Okzident’"
"Politische Korruption in historischer Perspektive: Westeuropäische Erfahrungen vom 15. bis 20. Jahrhundert"
"Vergessene Kategorien sozialer Integration: Ehre, Treue und Vertrauen als Aspekte einer Kulturgeschichte der Politik"

Die Geschichte der Politik beziehungsweise des Politischen hatte auf dem Dresdener Historikertag Konjunktur. Eine Sektion stellte die „neue Politikgeschichte“ ausdrücklich zur Diskussion, zahlreiche andere führten die Begriffe „Politik“ oder „politisch“ im Titel. Eine Abteilung befasste sich mit „politisch-kulturellen Ungleichheiten im Spannungsfeld zwischen ‚Orient’ und ‚Okzident’“. Ein anderes Podium thematisierte „politische Korruption in historischer Perspektive“, ein drittes „vergessene Kategorien sozialer Integration“ wie Ehre, Treue und Vertrauen als „Aspekte einer Kulturgeschichte der Politik“. Das Spektrum erstreckte sich zeitlich von der Antike bis zur Gegenwart mit einem Übergewicht auf dem 19. und 20. Jahrhundert. Geographisch lag der Schwerpunkt auf Deutschland und Europa mit Ausflügen in den Nahen und Fernen Osten. Thematisch gab es eine Bandbreite von antiken Herrscher- und Dynastiekulten bis zur Vertrauenssemantik bundesdeutscher Wahlkampfwerbung. Die ausgebreitete Vielfalt der Ansätze reichte von der transnationalen Geschichte über eine an Karl Rohe orientierte Analyse politischer Kultur bis zur Kommunikationsgeschichte und einer Geschichte der Emotionen.

Innerhalb der Sektion über die „neue Politikgeschichte“ in der Diskussion stellte SEBASTIAN CONRAD (European University Institute Florenz) seine transnationale Perspektive auf Politik nicht als Paradigma mit Ausschließlichkeitsanspruch vor, sondern als heuristische Alternative zur überkommenen Konzentration auf den Nationalstaat. Am Beispiel des deutschen und chinesischen Nationalismus um 1900 plädierte er dafür, Nationalismus und Internationalismus nicht im Denkmuster eines zeitlichen oder kausalen Nacheinanders zu interpretieren, in dem der Nationalismus als Vorbedingung oder Vorläufer des Internationalismus erscheint. Vielmehr solle man von einer gegenseitigen Durchdringung der beiden Phänomene ausgehen. BIRGIT EMICH (Universität Freiburg) verknüpfte das Konzept der politischen Kultur mit den makrohistorischen Prozessen der Staatsbildung im frühneuzeitlichen Oberitalien. Am Beispiel von Bologna und Ferrara demonstrierte sie, wie die politische Kultur der zwei Stadtstaaten die Handlungsmuster und Wahrnehmungsschemata von deren politischen Entscheidungsträgern prägte und auf diese Weise die langfristigen politischen Entwicklungen in beiden Staatswesen entscheidend bestimmte. WILLIBALD STEINMETZ (Universität Bielefeld) betonte bei seiner Präsentation des Bielefelder Ansatzes einer Politikgeschichte aus kommunikationsgeschichtlicher Perspektive den dynamischen Charakter des „Politischen“, das keinen zeitlos gültigen Wesenskern besitze, sondern sich in seinem Bedeutungsspektrum beständig verschiebe. Demzufolge stand die Erkundung von Politisierungs- und Entpolitisierungsprozessen im Zentrum seiner Überlegungen. Demgegenüber trat ANDREAS RÖDDER (Universität Mainz) mit bedenkenswerten Argumenten für eine hermeneutische, nicht theoriegeleitete Herangehensweise an die Politikgeschichte ein. Er sprach sich für eine Pluralität der Zugänge aus, beharrte aber mit Hans-Georg Gadamer auf dem „Vorrang der Frage“ und somit darauf, dass ein konkretes Erkenntnisinteresse, nicht eine bestimmte Theorie oder Methode am Anfang geschichtswissenschaftlicher Arbeit stehen müsse.

In der Sektion über Ehre, Treue und Vertrauen als vergessene Kategorien sozialer Integration beschrieb GUNILLA BUDDE (Universität Oldenburg) Emotion und Kalkül in der Politik nicht als Gegensätze, sondern als gleichberechtigte Bestandteile innerhalb eines kommunikativ konstruierten politischen Raumes. Im Anschluss an Agnes Hellers Theorie der Gefühle unterschied sie zwischen Basisgefühlen wie Angst oder Wut und komplexen Gefühlen, zu denen auch Ehre, Treue und Vertrauen gehörten. BIRGIT ASCHMANN (Universität Kiel) konzentrierte sich auf den Zusammenhang von Ehrkonzepten, nationaler Integration und Krieg, indem sie Gefühle verletzter Ehre als den eigentlichen Grund für den Ausbruch des deutsch-französischen Krieges 1870 darstellte. NIKOLAUS BUSCHMANN (Universität Tübingen) wies nach, wie nach dem Untergang des Kaiserreiches konträre Treuekonzepte den politischen Raum der ersten deutschen Republik in bitter verfeindete Lager spalteten. Auf diese Weise, so Buschmann, habe sich die ursprüngliche Funktion eines der sozialen Integration dienenden Treuebegriffs in ihr Gegenteil verkehrt. UTE FREVERT (Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Berlin) demonstrierte anhand des Vertrauensbegriffes, wie die Entpersonalisierung von Herrschaft gerade im 20. Jahrhundert zu einer „emotionalen Infusion“ in die politische Semantik geführt habe, um das entstandene Gefühlsvakuum auszugleichen.

Was die beiden Sektionen über die Beschäftigung mit den Begriffen der „Politik“ und des „Politischen“ hinaus verband, war die Frage, welchen Mehrwert ein dezidiert kulturgeschichtlicher Ansatz in der Politikgeschichte verspricht. Wer von den Diskussionen über eine derart erneuerte Politikgeschichte eine Fortsetzung der heftig geführten Auseinandersetzungen zwischen Sozialgeschichtlern und Politikhistorikern während der 1960er- und 1970er-Jahre erwartet hatte, wurde aus verschiedenen Gründen enttäuscht. Zum einen hat sich die Kultur wissenschaftlicher Debatten in den vergangenen drei Jahrzehnten stark gewandelt – zum Positiven, wenn man unter wissenschaftlicher Diskussion den sachlichen Austausch von Argumenten im Dienst des Interesses an einer gemeinsamen Sache versteht; zum Negativen mag meinen, wer sich von streitbarer Zuspitzung größere sachliche Trennschärfe und Erkenntniszuwachs verspricht. Thomas Mergels Beobachtung, die Debatte über die „neue“ Politikgeschichte stagniere „auf nicht sehr hohem Niveau“, war das Maximum an Polemik, das sich die Diskutanten gestatteten.

Dass bissige Konfrontationen in Dresden ausblieben, hatte aber auch damit zu tun, dass die Politikgeschichte älterer Prägung sich heute zwar methodisch wie thematisch herausgefordert, aber nicht in ihrem gesamten Ansatz in Frage gestellt sieht. Von der Sozial- und Kulturgeschichte her kommende Historiker, die Politik und Politischem lange Zeit ausgesprochen skeptisch gegenüberstanden, entdecken gegenwärtig Felder historischer Forschung für sich, auf deren zentrale Bedeutung ihre Kollegen von der „traditionellen“ Politikgeschichte schon seit jeher hingewiesen haben. Ungewendete Politikhistoriker haben somit trotz aller Irritation über theoretische Umorientierungen oder ungewohnte Ausweitungen des begrifflichen Instrumentariums bei den gegenwärtigen Debatten doch gleichsam ein Heimspiel.

Das wurde in Dresden immer dann deutlich, wenn Vertreter einer „neuen“ Politikgeschichte traditionelle Konzepte der Politikanalyse entweder mit großer Selbstverständlichkeit übernahmen oder nur unter großen Schwierigkeiten in ihre eigenen Ansätze integrieren konnten. So operierte Birgit Emich in ihrem Vortrag ganz selbstverständlich mit der Kategorie des „Interesses“. Diese wollte sie zwar als Ergebnis kultureller Bedeutungszuschreibungen verstanden wissen, aber doch im Sinne einer subjektiven Handlungsrationalität der beteiligten Akteure, an der kaum ein „konventioneller“ Politikhistoriker Anstoß genommen hätte. Ähnliches galt für Gunilla Buddes Darlegungen über Emotionen in der Politik, die sich über weite Strecken mit der medialen Konstruktion von Gefühlen durch politische Inszenierungen beschäftigten und nur selten über die Propagandaebene hinaus zu den Emotionen der Bürger vorstießen, wie sie sich etwa in Selbstzeugnissen aufspüren lassen. Eine derartige Fokussierung ist zwar verständlich, wenn man die methodischen Schwierigkeiten jeder Rezeptionsanalyse bedenkt. Sie relativiert jedoch den Neuigkeitsanspruch einer Geschichte der Gefühle, die sich nicht zuletzt als Kontrapunkt zur Überbetonung des Rationalen verstanden wissen will, aber doch immer wieder unweigerlich auf die Beschäftigung mit den Kosten-Nutzen-Kalkülen der beteiligten Akteure verwiesen ist.

„Macht“ und „Entscheidung“ stellen weitere derartige Kategorien dar, mit denen sich die „neue“ Politikgeschichte oftmals schwer tut. Thomas Mergel, der auf diesen Umstand hinwies, beharrte darauf, dass der konstruktivistische Ansatz der Kulturgeschichte sehr wohl zur Analyse von Macht- und Entscheidungsfragen geeignet sei. Er verwies in diesem Zusammenhang auf Max Webers Definition der Macht als Chance auf Gehorsam – sicherlich kein schlechter Rat, aber kaum einer, der unbedingt das Attribut „neu“ rechtfertigt. Willibald Steinmetz räumte ein, dass innerhalb des Bielefelder Sonderforschungsbereiches (noch) keine Einigkeit über die Frage bestehe, wie man Machtverhältnisse analysieren solle. Er selbst plädierte dafür, Diskurshegemonie als komplexes Zusammenspiel von Ressourcenkonstellationen und Diskurskämpfen zu begreifen, die in ihrer Rückbindung an außerhalb der Kommunikation liegende Machtverhältnisse über die Dimension der Diskursanalyse hinauswiesen. BERND WEISBROD (Universität Göttingen) benannte zwei weitere Aspekte, die in einer auf Diskurse und Kommunikation reduzierten Politikvorstellung zu kurz kämen. Erstens gehe der Erfahrungsgehalt – Weisbrod sprach von der „Welthaltigkeit“ – von Politik über die sprachliche Vermittlung hinaus: die Erfahrung der Arbeitslosigkeit sei eben nicht dasselbe wie das Reden über Arbeitslosigkeit. Zweitens könne der performative Aspekt von Politik (beispielsweise als Gewalt im Krieg) nur unzureichend in einen kommunikationsgeschichtlich verkürzten Begriff des Politischen integriert werden.

Spätestens an dieser Stelle in der Debatte wurde deutlich, dass der zur Feindbildbestimmung gern bemühte erkenntnistheoretische Gegensatz zwischen Vertretern der „alten“ und „neuen“ Politikgeschichte – ob man ihn nun auf die Formel Essentialismus versus Konstruktivismus oder Realismus gegen Kulturalismus bringt – vieles von seiner Schärfe verloren hat. Auch Rödder, der als Vertreter einer „Politikgeschichte aus klassischer Perspektive“ aufs Podium gebeten worden war, positionierte sich mit seinem Plädoyer für eine an Gadamer angelehnte erneuerte Hermeneutik als gemäßigter Konstruktivist. Umgekehrt bestand auch über die Grenzen eines radikalen Konstruktivismus weitgehend Konsens – ob man das nun mit den Stichworten „Welthaltigkeit“ und „Performanz“ begründete (Weisbrod), für Ressourcen-Untersuchungen zur Abstützung der Diskursanalyse plädierte (Steinmetz) oder Gadamers Begriff des Common sense ins Spiel brachte, um eine Realität außerhalb der Konstruktion zu postulieren (Rödder).

Wenn es einen tiefer gehenden Dissens gab, dann brach er über der Frage auf, ob eine Kulturgeschichte des Politischen als Ergänzung oder als Alternative zur herkömmlichen Politikgeschichte mit ihrem Fokus auf staatlichen Institutionen und Entscheidungsprozessen innerhalb zumeist von Männern dominierter politischer Eliten anzusehen sei. Gegen die Vorstellung eines um kulturgeschichtliche Gegenstände erweiterten Themenspektrums der Politikgeschichte regte sich dabei auch unter den traditionelleren Vertretern des Faches kaum Widerspruch. Allenfalls wurde die Relevanz einer Kulturgeschichte „des Einstecktüchleins“ oder „der Zahnbürste“ bezweifelt. Demgegenüber führten einige Kulturalisten dezidiert den Ehrgeiz ins Feld, sich nicht nur auf neue Themen abdrängen zu lassen, sondern auch „die alten Geschichten neu zu erzählen“. Die Kulturgeschichte als Methode tauge nicht, so das Argument, wenn sie nicht einen neuen Blick auf die ganze Politik eröffne – und somit eben auch die großen Themen der klassischen Politikgeschichte neu und anders interpretiere.

Nimmt man die Dresdener Vorträge und Diskussionen als Indiz dafür, inwieweit dieser Anspruch (schon) eingelöst werden kann, so fällt die Bilanz eher ambivalent aus. Einige Bemerkungen von Nikolaus Buschmann über die deutsche Revolution von 1848 als Zusammenstoß zweier diametral entgegengesetzter Treuekonzepte (zwischen Monarch und Untertan einerseits, zwischen Bürger und Verfassung andererseits) deuteten an, in welche Richtung sich künftige Forschungen bewegen könnten. Aber insgesamt lag der Akzent der meisten Beiträge doch auf der Erweiterung des Themenspektrums und nicht auf der Revision als gesichert geltender Erkenntnisse der herkömmlichen Politikgeschichte. Allein Birgit Aschmann setzte mit ihrem Vortrag zum Ausbruch des deutsch-französischen Krieges direkt bei einem der unzweifelhaft „großen“ Themen der klassischen Politikgeschichte an. Sie erzählte die Geschichte aber keinesfalls umstürzend neu, sondern lediglich mit einigen anderen Nuancen versehen. Das Bild eines kühl kalkulierenden Reichskanzlers und emotional reagierender französischer Politiker, das Aschmann entwarf, bestätigte sogar überkommene Vorstellungen vom zynisch-brillanten Realpolitiker Bismarck.

Ute Freverts Vorschlag schließlich, die deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert als Geschichte von Vertrauen und Misstrauen neu zu lesen, muss jedem einleuchten, der in Zeiten der gegenwärtigen Bankenkrise die Zeitung aufschlägt. Man darf in diesem Fall – wie bei anderen Projekten der „neuen“ Politikgeschichte – gespannt sein, ob und wie sich die skizzenhaften Umrisse einer vortrefflichen Idee über historische Annäherungen hinaus konzeptionell bändigen, methodisch überzeugend aufzäumen, empirisch unterfüttern und zu einer Monographie verdichten lassen: „The proof of the pudding will be in the eating.“